Mobbing in der Schule: Warum es häufig die Kleinsten trifft
Im Herbst beginnt für viele Kinder der Ernst des Lebens: Der Übergang vom Kindergarten in die Schule stellt für sie einen bedeutenden Entwicklungsschritt dar, der mit enormen Veränderungen verbunden ist. Während manche Kinder sich problemlos im Schulalltag sowie im Umgang mit ihren Mitschülern zurechtfinden, fällt es einigen schwer, neue Kontakte zu knüpfen und unter ihren Mitschülern Freunde zu finden: Einer PISA-Studie aus dem Jahr 2015 zufolge wird jeder sechste Schüler in Deutschland gemobbt[1]. „Gerade im jungen Alter ist das ,Dazugehören‘ extrem wichtig: Kinder definieren sich über ihre Freundesgruppe und sehen zu beliebten Kindern als Vorbilder auf. Wer keinen Anschluss findet und zum Außenseiter wird, läuft dagegen Gefahr, den Schikanen seiner Mitschüler ausgesetzt zu sein“, erklärt Marek Fink, Vorstandsmitglied von Zeichen gegen Mobbing e.V.
Doch was versteht man überhaupt unter „Mobbing“? Und welche Strategien gibt es für Betroffene und deren Eltern, um die Situation zu verbessern?
Anzeichen und Merkmale von Mobbing
Der Begriff „Mobbing“ hat sich seit dem Ende der 80er Jahren etabliert, allerdings konnte bislang noch nicht einheitlich festgelegt werden, was genau unter Mobbing verstanden wird. Laut dem Verband Zeichen gegen Mobbing e.V. beschreibt Mobbing die absichtliche Ausführung verschiedener Gewaltformen, zum körperlichen und seelischen Schaden einzelner Personen. Dabei kann Mobbing eine große Bandbreite an Handlungen umfassen, die von verbalen Erniedrigungen durch Beschimpfen und Hänseln über Beleidigungen in sozialen Medien (Cybermobbing) bis hin zur körperlichen Gewalt (Bullying) reichen können.
Das Problem: Viele Eltern und Lehrer halten Mobbing nach wie vor für eine Modeerscheinung. Häufig haben sie in ihrer eigenen Schulzeit die Erfahrung gemacht, dass es ganz normal ist, dass sich Kinder ab und zu streiten, gehänselt werden und sich gegenseitig Streiche spielen – ohne dass dabei von Mobbing im eigentlichen Sinne gesprochen wurde. Auch die Täter selbst nehmen zum Teil nicht wahr, wie groß der Schaden ist, den sie ihrem Gegenüber durch ihr unsoziales Verhalten zufügen.
Doch wo endet ein harmloser Streit zwischen Kindern und wo fängt systematisches Mobbing an? Der Verband Zeichen gegen Mobbing e.V. unterscheidet vier typische Merkmale, anhand derer sich kleinere Konflikte von einer Mobbingsituation unterscheiden lassen:
1. Kräfteungleichgewicht
Macht und Einfluss bestimmen häufig die Dynamik in Schulklassen – und schaffen den Nährboden für die Bildung von Grüppchen und Hierarchie-Gefällen innerhalb der Klassen. „Um ihre eigene Machtposition zu stärken, suchen sich Mobber häufig Mitschüler aus, die ihnen unterlegen sind. Hierzu zählen Faktoren wie körperliche Stärke und Größe ebenso wie Alter, Intelligenz oder die Beliebtheit innerhalb der Gemeinschaft“, weiß Fink aus Erfahrung.
2. Häufigkeit
Charakteristisch für systematisches Mobbing sind Gewaltübergriffe, die gezielt und wiederholt erfolgen. „Als Faustregel gilt: Um von Mobbing sprechen zu können, muss es mindestens einmal in der Woche zu Handlungen kommen, die die Betroffenen körperlich oder seelisch verletzen“, erklärt Fink.
3. Dauer
Neben der Häufigkeit der Übergriffe ist auch der Zeitraum ein wichtiges, wenn auch nicht ein einheitlich festgelegtes Unterscheidungsmerkmal. Die Definitionen, die sich in verschiedenen Forschungsergebnissen finden lassen, variieren bei diesem Kriterium allerdings am meisten. So hat der Zeichen gegen Mobbing e.V. festgelegt, dass die Gewalt in einer gewissen Häufigkeit über einen Zeitraum von mindestens einem Monat stattfinden muss, um von Mobbing sprechen zu können. Fink rät: „Dass die Übergriffe über einen Monat hinweg erfolgen müssen, um von Mobbing zu sprechen, heißt nicht, dass nicht auch schon früher Handlungsbedarf bestehen kann. Sobald eine Person durch körperliche oder seelische Gewalt verletzt wird, sollte eingegriffen werden.“
4. Hilflosigkeit
Haben sich die Betroffenen aufgrund andauernder Schikanen in ihre Opferrolle gefügt, verfestigt sich das bereits bestehende Hierarchie-Gefälle zunehmend. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis, aus dem betroffene Personen aus eigener Kraft nicht mehr entfliehen können, beobachtet Fink: „In der Regel verlaufen jegliche Reaktionen aus eigener Kraft ins Leere oder verschlimmern die Situation sogar. Nur mit Hilfe von außen kann das Leid der Betroffenen in den meisten Fällen beendet werden“.
Mobbing-Teufelskreis (eigene Darstellung)
Dass auch die Körpergröße von Schülern darüber entscheiden kann, ob Schüler zur Zielscheibe für Mobbing werden, weiß Fink aus Erfahrung: „Grundsätzlich kann es jeden treffen. Oft sind es gerade kleine und zierliche Kinder, die betroffen sind, weil sie aufgrund ihrer kleinen Größe im Vergleich zu ihren Mitschülern auffallen und ihren Mobbern zugleich körperlich unterlegen sind und sich dadurch kaum gegen mögliche Angriffe wehren können“.
Hinzu kommt, dass kleinere Kinder aufgrund ihrer Größe häufig auch außerhalb der Schule von bestimmten Freizeitaktivitäten ausgeschlossen werden. Beispiele hierfür sind Sportvereine, die Kinder erst ab einer bestimmten Größe aufnehmen oder Freizeitparks und Schwimmbäder, die für einige besonders spektakuläre Fahrgeschäfte oder Rutschen eine Mindestgröße für die Benutzung festgelegt haben. „Bei solchen Mutproben sind diejenigen automatisch ausgeschlossen, die im Vergleich zu Gleichaltrigen kleiner sind“, erläutert Fink. „Auf diese Weise können sich bereits erste Neckereien ergeben, die sich später zu Hänseleien entwickeln und den Weg zum Mobbing ebnen.“
Was tun gegen Mobbing? – Strategien für betroffene Kinder
Die Eltern der Betroffenen erfahren häufig erst spät von den Schikanen, denen ihr Kind im Schulalltag ausgesetzt ist, da gemobbte Kinder in der Regel ihren Eltern nichts von ihrem Martyrium erzählen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein: Viele Kinder wollen ihre Eltern nicht mit ihren Sorgen belasten oder sie schämen sich, weil sie sich in einer Opferrolle befinden und das Gefühl haben, sich kaum aus eigener Kraft daraus befreien zu können. Dabei gibt es laut dem Zeichen gegen Mobbing e.V. verschiedene Strategien, die Betroffene anwenden können, um ihre Situation selbst oder mit Unterstützung zu verbessern.
Auch wenn es schwerfällt: Das Gespräch mit einer erwachsenen Vertrauensperson kann dabei helfen, das Geschehene zu verarbeiten und letztendlich auch Unterstützung zu finden. Empfehlenswert ist es außerdem, ein Mobbing-Tagebuch zu führen, in dem die Betroffenen möglichst detailliert festhalten, was ihnen wiederfahren ist und wer die Vorfälle beobachtet hat, um später mögliche Zeugen benennen zu können. Wer online gemobbt wird, sollte außerdem die betreffenden Personen nicht nur blockieren, sondern verletzende Posts und Chatverläufe umgehend per Screenshot speichern und dem Betreiber der Plattform melden. Häufig entwickeln Betroffene außerdem Rachegedanken gegenüber ihren Peinigern – diesen sollten sie jedoch nicht nachgehen. Fink rät: „Wenn Opfer versuchen, sich aus ihrer Rolle zu befreien, indem sie den Tätern Schaden zufügen, riskieren sie, dass sie ihre eigene Situation noch weiter verschlimmern. Besser ist es, sich auf sich selbst zu konzentrieren, seine eigenen Talente und Fähigkeiten zu entdecken und Zeit mit vertrauten Personen zu verbringen.“
Was tun gegen Mobbing? – Strategien für Eltern von Betroffenen
Wenn Betroffene sich ihren Eltern nicht anvertrauen, erkennen diese häufig anhand zum Teil extremer Wesensveränderungen ihrer Kinder, dass etwas nicht stimmt. „Wenn Kinder sich immer mehr zurückziehen oder bedrückt wirken, können das erste Warnsignale für Eltern sein. Häufig reagieren Betroffene aber auch unerwartet gereizt oder aggressiv – auch das kann auf Mobbing in der Schule hinweisen“, erklärt Fink. In diesen Fällen hilft es meist, die betroffenen Kinder in einer ruhigen Gesprächsatmosphäre gezielt nach den Ursachen für ihr Verhalten zu fragen.
Falls sich die Befürchtung bewahrheitet und sich herausstellt, dass ihr Kind das Opfer von Mobbing geworden ist, sollten Eltern besonnen vorgehen. „Es empfiehlt sich in jedem Fall, ruhig zu bleiben und das Kind in Ruhe erzählen zu lassen“, rät Fink. Eltern sollten demnach versuchen, möglichst detaillierte Informationen über das Geschehene zu erhalten, ohne das Kind dabei zu bedrängen. „Hilfreich kann es beispielsweise sein, wenn Eltern während des Gesprächs Ich-Botschaften verwenden, um die Situation aus ihrem Blickwinkel heraus zusammenzufassen. Damit zeigen sie dem Kind, dass sie es verstehen und sich in seine Lage hineinversetzen können“, empfiehlt Fink. Entscheidend ist es dabei, dass die Eltern dem Kind das Gefühl vermitteln, auf seiner Seite zu sein und es ernst zu nehmen – etwa in dem gemeinsam mit dem Kind Strategien für das weitere Vorgehen festgelegt werden. „Damit erhalten die Betroffenen die Möglichkeit, sich wieder selbst aus ihrer Situation zu befreien, was wiederum ihr Selbstvertrauen stärkt“, weiß Fink aus Erfahrung.
Die Eltern betroffener Kinder sollten außerdem nicht davor zurückschrecken, Hilfe von außen anzunehmen. „Viele Eltern greifen in ihrer Hilflosigkeit oder in der ersten Aufregung schnell zu Mitteln, die das Mobbing nicht beenden, sondern sogar verschlimmern – beispielsweise indem sie die Täter oder deren Eltern direkt konfrontieren“, erläutert Fink. „Spezielle Beratungsstellen und Vereine können dabei helfen, Lösungen zu finden, die die Situation für alle Beteiligten nachhaltig verbessern.“
Wenn Kinder, die besonders klein sind, aufgrund ihrer Größe gemobbt werden, kann auch die Abklärung der verminderten Größe beim Kinderarzt oder bei einem pädiatrischen Endokrinologen helfen. Wird eine Wachstumsstörung frühzeitig erkannt, kann sie rechtzeitig behandelt werden, sodass die Betroffenen letztendlich das Wachstum aufholen können. Mit dem Zuwachs an Körpergröße gewinnen die Kinder häufig auch an Selbstbewusstsein, um Gleichaltrigen auf Augenhöhe zu begegnen. Informationen rund um die Behandlung von Wachstumsstörungen finden Sie hier.
Checkliste: Tipps für Eltern von Betroffenen
- Ruhige und angenehme Gesprächsatmosphäre schaffen
- Ich-Botschaft verwenden
- Möglichst genau über Vorfälle informieren
- Gemeinsame Planung der nächsten Schritte zusammen mit dem Kind
- Vermitteln von Sicherheit gegenüber dem Kind
- Hilfe annehmen
Quelle: Zeichen gegen Mobbing e.V.
Die Inhalte des Beitrags stammen aus einem Interview mit Marek Fink, Vorstandsmitglied Zeichen gegen Mobbing e.V.
Über Zeichen gegen Mobbing e.V.:
„Zeichen gegen Mobbing e. V.“ möchte als gemeinnütziger Verein ein bundesweites Netzwerk dafür bieten, das Miteinander von morgen zu verbessern. Dafür unterstützen sie Betroffene, Schulen und Eltern bei der Prävention und Intervention von Mobbing. Hinter dem Verein steckt ein junges Team, dem das ehrenamtliche Engagement eine Herzensangelegenheit ist. Speziell ausgebildete Anti-Mobbing-Coaches stehen Betroffenen und deren Eltern und Lehrkräften mit Empathie und Fachwissen zur Seite, damit erfolgreiche und nachhaltige Aufklärung stattfinden kann und bestehende Mobbingsituationen ein schnelles Ende finden.
[1] vgl. OECD (2017), PISA 2015 Results (Volume III): Students‘ Well-Being, PISA, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/9789264273856-en.